Training
Vor fünf Monaten beschließe ich spontan, diesen 10er in 45 Minuten zu laufen. Ich schnappe mir einen Trainingsplan, dessen Essenz ich einigermaßen konsequent verfolge: Pro Woche ein langsamer Fettstoffwechsellauf (10-16 km) und ein Tempodauerlauf (4-8 km plus Ein-/Auslaufen mit 4:50 min/km) als wichtigste Laufeinheiten sowie 2 (im Plan tatsächlich häufig auch 3) mittlere Läufe (8-14 km, vom Tempo dazwischen). In der etwa 10 Wochen langen Hochphase dieses Plans sind wöchentlich 35-55 km vorgesehen. Bei mir ist öfters mal ein mittlerer Lauf aufgefallen oder ich habe die Distanz leicht reduziert (auch wegen der orthopädischen Belastung), deshalb komme ich eher auf 30-40 km. In den letzten fünf Wochen teilweise gar keine mittleren Läufe, weil ich lieber schwimmen und radfahren war.
Weiter sind zweimal wöchentlich etwa 20 Minuten Kräftigungsübungen auf dem Plan, von denen ich denke, dass ich sie etwa in diesem Umfang absolviert habe - hab das immer gemacht, wenn ich gerade dran gedacht hab
Gestern, 17 Uhr
Ich fahre mit dem Rad zum Veranstaltungsort, um meine Startnummer (mit Chip für die Zeitmessung) zu holen. Es sind 31°C und die Brühe läuft. Gute Aussichten.
Heute, 7 Uhr
Der Wecker klingelt
Zum Frühstück ein Marmeladenbrot, Zähneputzen, mit Sonnencreme einschmieren und um 8 Uhr verlasse ich das Haus. Über Nacht hat es geregnet und es gab eine ordentliche Abkühlung: Das Thermometer zeigt 18°C, optimal
8:35 Uhr
15 Minuten vor Start konsumiere ich ein Energiegel für Kohlenhydrate. Hab letztes Jahr ein 20er-Pack gekauft, best before 06/2024
Danach auf Toilette, wo überraschenderweise keine Schlange ist. Schuhe nochmal neu binden, Sonnenbrille auf, Kappe eng einstellen. Ich überlege, mein Stirnband zu befeuchten, aber entscheide mich dagegen.
8:47 Uhr
An die Startlinie. Es gibt nette Schildchen und ich sortiere mich in "Gruppe B, 4:30 min/km" ein.
8:51 Uhr
Start! Ich habe mich gut positioniert und kann Gedränge vermeiden. Mit 4:10-4:20 min/km sause ich leicht wie eine Feder übers Feld. Das wird ein Kinderspiel
4 Minuten, 0,94 km
Meine Schwester feuert mit von der Seitenlinie an und mein Tempo steigt für etwa 50 Meter auf 3:37 min/km. Wird die Geschwindigkeitsspitze in diesem Rennen bleiben
Kilometerzeit 1: 4:22 min
Sieht gut aus und Tempo fühlt sich gut an. Vielleicht trotzdem etwas langsamer werden. Puls ist inzwischen bei 168. Da geht noch mehr, aber das wird sich von selbst erledigen.
Kilometerzeit 2: 4:26 min
Gutes Tempo, will ich beibehalten. Gefühl ist gut. Puls ist auf 173.
Verpflegungsstation 1: 2,3 km
Ich kann mir einen Becher Wasser schnappen und etwa zur Hälfte leeren. Leichtes Verschlucken, 100 Meter Rumgehuste, aber keine spürbare Auswirkung auf die Geschwindigkeit.
Kilometerzeit 3: 4:22 min
Klingt gut, aber das liegt daran, dass ich die erste Kilometerhälfte schnell war. Meine Uhr zeigt gerade eine Momentgeschwindigkeit von 4:40 min/km. Zu viel sollte man darauf nicht geben, denn die GPS-Messung ist nicht super präzise. Ich bleibe allerdings einige hundert Meter auf diesem Tempo bzw. werde sogar schleichend langsamer, was problematisch ist. Bisher konnte ich einigermaßen "natürlich" mein Tempo laufen, ab hier muss ich mich bewusst dazu zwingen, mein Tempo zu halten. Hätte für meinen Geschmack später passieren können, ist aber ok. Ich spüre, dass mein Kopf inzwischen ordentlich warm ist.
Kilometerzeit 4: 4:32 min
Ich konnte auf 4:22 min/km beschleunigen und werde im Laufe von Kilometer 4 schleichend etwas langsamer, sodass meine Momentangeschwindigkeit am Ende bei 4:30 min/km liegt. Ist in Ordnung. Bisherige Durchschnittsgeschwindigkeit ist 4:25 min/km, ich habe also 20 Sekunden Puffer aufgebaut. Ich bin optimistisch, das zu schaffen. Hier ist auch die zweite Verpflegungsstation, bei der ich einen Becher Wasser halb leere. Und immer schön Danke zu den Helfenden sagen
Puls ist ab hier auf 174-176.
Kilometerzeit 5: 4:30 min
Läuft bei mir. Ich merke inzwischen eine gewisse Anspannung in der Brust, die aber nicht unangenehm ist, wohingegen mein Kopf sich nicht mehr unangenehm warm anfühlt. Mein Geisteszustand ist einigermaßen meditativ. Auf diesem Kilometer überhole ich einige Laufende, darunter ein Paar französisch sprechender Frauen. Ouais.
5,6km, 24:56 min
Hier ist eine Wende von fast 180°. Ab jetzt geht es also "zurück", allerdings erst mal auf einer anderen Strecke (kein Gegenverkehr
). Da mir die Sonne jetzt in den Rücken scheint, überlege ich, meine Kappe umzudrehen. In dem Moment kommt ein starker Windstoß und ich kann die Kappe gerade noch mit beiden Händen festhalten, bevor sie mir wegfliegt
Alles klar, ich lass sie, wie sie ist.
Kilometerzeit 6: 4:31 min
Läuft noch, aber ich rutsche langsam wieder in den Bereich 4:3x min/km
Versorgungsstation 3: 6,7km
Dies ist dieselbe Versorgungsstation wie die vorherige, nur in die andere Richtung durchlaufen. Entsprechend ist hier ein kurzes Stück Gegenverkehr. Vor mir sind drei Leute, die alle vorhandenen Wasserbecher der Anreichenden wegschnappen
Kann ich mir einen vom Tisch schnappen? Ne, lass mal lieber, bevor ich hier was umreiße. Und von der linken Seite hol ich mir auch keinen, da wär ich letztes Jahr beinahe in den Gegenverkehr gerannt. Mit einem kurzen Sprint ziehe ich an den Leuten vor mir vorbei und gehe ohne Getränk aus dieser Versorgungsstation. Ich hatte eh das Gefühl, es nicht dringend zu brauchen, aber ich hätte lieber eins genommen.
6,5km: 29 Minuten
Wo ist eigentlich meine Startnummer?
Da ist doch der Chip für die Zeitmessung dran
Lösung: An meinem Rücken
Ich hab so einen Startnummerngurt, an dem die Nummer mit Sicherheitsnadeln befestigt ist (damit ich keine Löcher in das Laufshirt piekse), und der ist einmal um 180° verrutscht.
Kilometerzeit 7: 4:36 min
Ich zehre an meinem aufgebauten Puffer und es wird nun wirklich ätzend. Aber dafür kommen ab jetzt kaum noch zeitraubende Kurven. Jetzt nochmal reinhängen.
Kilometerzeit 8: 4:43 min
Oh shit
Der Kilometer war schlecht, aber mir war nicht klar, dass ich so sehr im Verzug bin. Mein gesamter Puffer ist aufgebraucht und tatsächlich ist meine Durchschnittsgewindigkeit auf 4:31 min/km runter. Ich muss also 8 Sekunden aufholen und bin schon ziemlich am Ende. Puls auf 178. Es kommen ernsthafte Zweifel auf, ob ich den guten Start ins Ziel bringen kann.
Das ist nicht akzeptabel
Ich habe eine lange Gerade vor mir und gehe mental in den erweiterten Endspurt über. Einige hundert Meter kann ich mich auf 4:20 min/km hochkämpfen, falle dann aber wieder langsam ab. Ich werde von der Frau überholt, an der ich vor 500 Metern vorbeigezogen bin.
Ich habe nun einige Leute vor mir, dabei auch viele aus dem vorher gestarteten Halbmarathon und 30er (die dieselbe Runde mehrmals laufen). Außerdem bin ich für die letzten zwei Kilometer wieder auf derselbe Strecke wie zu Beginn, es ist also wieder Gegenverkehr. Beides zusammen macht es schwieriger, schnell zu laufen. Durch die vielen vergleichsweise langsamen Laufenden um mich herum fühle ich mich schneller, als ich bin, was nicht gut ist, um das Tempo zu halten.
Versorgungsstation 2: 8,5km
Ist dieselbe Station wie die erste. Diesmal erwische ich einen Becher Wasser, bekomme aber nicht viel runter. Egal.
Außerdem kommt mir ein Kollege entgegen, der offensichtlich den Halbmarathon oder 30er läuft und auch letztes Jahr schon dabei war. Ich grüße und zeige beide Daumen hoch, aber so fühle ich mich nicht.
Kilometerzeit 9: 4:32 min
Ich wollte doch Zeit aufholen
Meine Uhr zeigt 40:38 Minuten seit Start, ich habe also 4:22 Minuten für den letzten Kilometer. Das klingt schmerzhaft, aber machbar, wenn ich jetzt nochmal alles gebe. Außerdem komme ich nicht umhin festzustellen, dass ich die mit Kreide eingezeichnete 9km-Marke bereits vor hundert Metern passiert habe. Meiner Erfahrung nach zeigt meine Uhr am Ende des Wettkampfs oft weniger Strecke an als offiziell. Kann mich das retten? Wie groß ist der Unterschied überhaupt? Zu Kopfrechen-Akrobatik bin ich gerade leider nicht in der Lage.
9,35km: 42:08 Minuten
Ich verrecke. Ich verrecke elendig. Aber noch verrecke ich mit 4:20 min/km, also alles super. Die Durchschnittsgeschwindigkeit ist wieder auf 4:30 min/km hoch, ich muss also irgendwie den Rückstand gutgemacht haben.
Ich überlege, die Startnummer am Gurt wieder vor meinen Bauch zu drehen, damit der Zeitmessungschip früher übers Ziel geht
Lass ich aber sein.
9,7km: 43:40 Minuten
Die letzte Kurve. Die letzten 200 Meter war ich wieder auf 4:30 min/km runter, aber jetzt bin ich auf der Zielgeraden. Ein Blick auf die Uhr verrät, dass mir das nicht mehr zu nehmen sein sollte. Ich sprinte los.
9,85km: 44:20 Minuten
Ich höre Anfeuerungsrufe meiner Schwester. Sehen kann ich sie nicht. Generell ist meine Wahrnehmung ziemlich eingeschränkt.
Zieleinlauf: 9,92 km, 44:38 Minuten
Geschafft
Sogar mit über 20 Sekunden Puffer, also gar kein Problem
Ein bisschen bleibt das schlechte Gefühl über, dass meine Uhr nur 9,92 km zeigt. Aber wenn ich meine Durchschnittsgeschwindigkeit (laut Uhr) auf 10km hochrechne, komme ich auf 44 Minuten und 59,6 Sekunden. Da soll mal jemand sagen, ich setze mir keine realistischen Ziele
Aber am Ende zählt sowieso das
Offizielle Ergebnis: 44:40 Minuten
Die zwei Sekunden Differenz zu meiner Zeitmessung wundern mich, denn ich war eigentlich der Ansicht, ziemlich präzise gestartet und gestoppt zu haben.
Außerdem bin ich Zweiter (von 14) in meiner Altersklasse (Männer 20-29) geworden
Außerdem 20ter von 83 Männern insgesamt.
Fazit
Training funktioniert. Ist immer wieder erstaunlich
In Zukunft werd ich aber wohl wieder auf die höheren Distanzen gehen, denn das hier war mir echt zu anstrengend.
Daten und Kurven
Eine halbe Minute nach Zieleinlauf hatte ich ja das Gefühl, beim erweiterten Schlussspurt auf den letzten zwei Kilometern wäre mehr drinnen gewesen. Wenn ich mir ansehe, dass ich selbst mit meinem Sprint auf der Zielgeraden gerade mal auf 4:17 min/km hochgekommen bin, muss ich bekennen, dass das eine Fehleinschätzung ist